Der vorliegende Sammelband dokumentiert Beiträge, die für einen religionspädagogischen Kongress der ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig unter dem Titel Werte Leben – Werte lernen. Von der Schwierigkeit zu vermitteln, was uns lieb und wert ist, verfasst wurden.
Das Ziel dieses Kongresses war es, im Blick auf den Erziehungsauftrag der Schule konstruktive Perspektiven zum Thema Wertebildung zu eröffnen. Den Herausgebern ist es ein zentrales Anliegen, dass „Werteerziehung oder – besser- Wertebildung in der Schule (…) davon ausgeh[t], dass die willentliche Rezeption der Werte durch das lernende Subjekt eine wesentliche Gelingensbedingung darstellt. (S. 7) Zugleich machen sie deutlich, dass sich Religionsunterricht nicht im Auftrag der Wertebildung erschöpfen kann. „Was das Fach Religion angeht, stellt sich jedoch die Frage, ob es mit der Aufgabe der Wertebildung nicht unterbestimmt ist.“ (S. 8)
Folkert Doedens geht der Frage nach, inwieweit Religionsunterricht als Werte vermittelndes Fach zu verstehen sei. Er spricht sich aufgrund der damit gegebenen instruktiven Tendenz gegen die Verwendung des Begriffs Wertevermittlung aus und betont, dass der Begriff Wertebildung deutlich präziser zum Ausdruck bringe, worum es gehe. „Es ist zum Einen Aufgabe der Schule, in Sachen Werte ‚bildende‘ Prozesse zu organisieren, die eine über sich selbst ‚aufgeklärte Handlungsfähigkeit befördern (…). Zum Anderen sind diese Bildungsprozesse so zu gestalten, dass sie den jungen Menschen die Möglichkeit eröffnen, in der Begegnung und Aktualisierung der großen ethischen Traditionen Werte für ihr eigenes Denken und Handeln zu bilden.“ (S. 13) Doedens zieht empirische Daten einer Umfrage unter Religionslehrerinnen und -lehrern in Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein heran und legt dar, dass im Blick auf den Religionsunterricht die „Vermittlung allgemeiner Wertvorstellungen für das menschliche Zusammenleben“ die „höchste Zustimmung“ findet. (S. 28f.) Die Untersuchung zeigt, dass es bei den befragten Lehrpersonen eine starke Tendenz zu einem subjektorientierten Religionsunterricht gibt, der von den Fragen der Schülerinnen und Schüler ausgehend freilich in der Gefahr stehe, die eigene Identität zu verlieren. Das im Bereich der Wertebildung wahrnehmbare „Akzeptanz-Identitäts-Dilemma des Religionsunterrichts“ (S. 31) fordere den Religionsunterricht heraus. Wenn Religionsunterricht identitätsstiftend und damit wertebildend wirken will, „dann ist es seine Aufgabe, die gefährlichen Erinnerungen der religiösen Traditionen an Unterdrückung, Unrecht, Unfreiheit und Gewalt der Religionen und deren Utopien und Verheißungen als kritisch befreiendes Potential zur Sprache zu bringen. Nur dann wird er wirklich ein für die Schülerinnen und Schüler relevanter Lern- und Bildungsort, der sie darin unterstützt, Werteorientierung für die Gestaltung und das Leben in einer humanen Welt zu finden.“ (S. 32)
Thomas Gensike ermöglicht mit der instruktiven Auswertung verschiedener Shell-Studien einen Einblick in die Haltungen der Jugend der 2000er Jahre, der er attestiert, dass überlieferte „Wert-Bestände (…) in modernisierter Form mit den neuen Werten der Selbstentfaltung und Humanität verknüpft bzw. in einen Ausgleich“ gebracht werden (S. 39).
Albert Duggeli plädiert in seinem Beitrag „Werteerziehung – Wie kann das unter schulischen Bedingung gelingen?“ in Anlehnung an Hans Joas dafür, Lernsituationen zu schaffen, die wertkonstitutive Erfahrungen ermöglichen (S. 54) und unterscheidet kognitiv und affektiv konnotierte „Perspektiven von Werterfahrungen“ (beteiligt, zuschauend, erzählend) die Schülerinnen und Schülern im Lernort Schule in unterschiedlichen Settings eröffnet werden sollen, um „Prozesse der Werterziehung in der Schule“ anzuleiten (S. 55).
Hans-Georg Babke stellt in seinem praxisorientierten Beitrag „Mit der Bergpredigt Politik machen? – Förderung ethischer Urteilskompetenz durch Differenzierung“ die Bedeutung von Dilemma-Situationen für die rationale Fundierung der Wertebildung heraus. „Wertebildung (…) setzt auf die rationale Begründung von Handlungsregeln, auf Argumentation und Diskurs.“ (S. 59) Im ersten Teil finden sich hilfreiche Klärungen zu ethischen Ansätzen, darauf folgt ein ausführliches Unterrichtsbeispiel, das die Arbeit mit verschiedenen Dilemma-Situationen erläutert und auf die Anforderungen der Bergpredigt bezogen wird.
Heiko Lamprecht erarbeitet und didaktisiert mit Unterrichtbausteinen für die Sekundarstufe I vor allem zu dem slowakischen Schwarzweißfilm „T-shirt“ (Tričko) die These von Hans Joas, dass Werte „stark emotional besetzte Vorstellungen darüber [sind], was eigentlich wahrhaftig des Wünschens wert ist“ (S. 76). Das kompetenzorientiert aufbereitete Unterrichtsmaterial soll es den Lernenden ermöglichen „über die Wirksamkeit von kulturellen Hintergründen, unterschiedlichen Wertvorstellungen und kommunikativen Problemen ins Gespräch zu kommen und auf dieser Basis Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten“ (S. 75).
Elisabeth Naurath fordert „Werte-Bildung mit Gefühl“ und lotet die „Möglichkeiten und Grenzen im Religionsunterricht“ aus. Grundlegend ist für Naurath die Einsicht, dass Wertebildung emotionales Lernen unbedingt einschließt und eine „ausschließliche Fixierung auf kognitive Lernprozesse nicht ausreichend“ sei (S. 99). Bildungstheoretisch und mit Bezug zu den Erkenntnissen der Neurophysiologie formuliert, gehe es um „ den Interdependenzzusammenhang von kognitiven und emotionalen Lernsituationen“ (S. 100).Der Beitrag setzt grundlegend an, denn Wertebildung ist ohne eine Erfahrung von Wertschätzung im Lebensraum Schule nicht zu denken. Naurath reflektiert den Zusammenhang von Subjektwerdung und Selbstwerdung bzw. Selbstbildung und sieht in der Haltung der Wertschätzung des Subjektes, einer Haltung also, „die vom Besonderen auf das Allgemeine schließt“ (S. 106) den entscheidenden Schlüssel zu einer gelingenden Wertebildung und konkretisiert diese mit ihren Thesen zu einer „subjektorientierten Religionspädagogik“ (S. 107 – S. 111).
Christoph Hubig leuchtet unter der Fragestellung „Wie kommen wir zu unseren Werten und wie verbindlich können sie sein?“ im Blick auf den Status von Werten, Wertepluralismus und basale Werte den philosophischen Hintergrund der Wertedebatte präzise aus.
Ingrid Wiedenroth-Gabler, „pädagogische Begleiterin bei der Ausbildung der Lehrkräfte im Schulversuch Islamischer Religionsunterricht“ in Niedersachsen stellt sich die Frage, wie „eine gemeinsame Werterziehung in einem getrennten Religionsunterricht“ gelingen kann. Der nachdenkliche Beitrag zeigt, wie religiöse Begründungen Ethik und Werte bestimmen und damit durchaus in Spannung mit der im niedersächsischen Schulgesetz verankerten „reflektiert liberal-humanistischen Werteerziehung“ stehen können (S. 131). Sie verdeutlicht diese „Problematik“ an verschiedenen Beispielen (S. 131 – S. 133) aus dem islamischen Religionsunterricht (Schweinefleischverbot, Reflexion religiöser Praxis, „Engel als Erziehungshelfer“, „Abbildungen und Fragen verboten“) und betont vor diesem Hintergrund, dass „eine religiöse Wertebildung und Erziehung am Lernort Schule (…) die theologischen Grundlagen reflexiv und kritisch im Hinblick auf bildungstheoretische und gesellschaftliche Relevanz“ bedenken müsse (S. 133).
Christoph Gramzow nimmt sich in seinem das Buch beschließenden Beitrag der Frag an: „Werte lernen durch Werte leben?“ Er reflektiert mit lerntheoretischem Bezug zum „Ansatz des situated learning“ (S. 140 – 151) und unter Heranziehung empirischer Daten, die aus der Reflexion von Sozialpraktika von Schülerinnen und Schülern gewonnen wurden, die Chancen von „Wertebildung in diakonischer Praxis“ im Kontext des Lernorts Schule. Gramzow kommt in seinem detaillierten Beitrag zu dem Ergebnis, dass das „Tätigsein in der diakonischen Praxis“ ein performativer Lernprozess sei (S. 150) und deshalb „diakonisches Lernen (…) den ‚Wertekanon‘ von jungen Menschen in Bewegung“ bringen könne (S. 156).
Das vorliegende Buch bietet fundierte Überlegungen zur aufgeworfenen Fragestellung und enthält zugleich nachahmenswerte Praxisvorschläge, denen die unterrichtliche Umsetzung zu wünschen ist.
Joachim Kittel