Reschke, Anja (Hg.): Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge. Reinbek bei Hamburg 2015, 334 S.
Der Titel des Sammelbandes „Und das ist erst der Anfang“ klingt halb drohend und sagt gleichzeitig aus, was Realität ist: Deutschland (und Europa) stehen am Anfang einer gewaltigen geschichtlichen Umwälzung, die durch die größte Völkerwanderung der Neuzeit ausgelöst wurde.
In ihrem einleitenden Beitrag weist die Herausgeberin des Bandes Anja Reschke, bekannt von der ARD-Sendung Panorama, darauf hin – und das ist für Lehrerinnen und Lehrer und für alle, die beruflich oder privat mit jungen Menschen zu tun haben, erhellend und erfreulich: die Jugend, so zeigt die Shell-Jugendstudie 2015, sieht dem Thema Zuwanderung gelassen entgegen und die deutschen Jugendlichen interessieren sich so sehr für Politik, wie schon lange nicht mehr.
Maximilian Popp schreibt zum Thema „Refugees welcome!“ das Protokoll einer Zäsur seit dem 31.12.2014, als Angela Merkel in ihrer Neujahrsansprache das große Thema Zuwanderung noch nicht kommen sah oder kommen sehen wollte .
Bahman Nirumand erzählt von eigenen Fluchterfahrungen und von dem „Schmerz, die Heimat verlassen zu müssen“.
Kristin Helberg skizziert die politischen Entwicklungen in Syrien seit dem Aufstand im Frühjahr 2011 und gibt detaillierte Einblicke in die Situation der Bevölkerung.
Daniela Dahn appelliert an die Verantwortung des Westens. Die „Flut von heute“, also die Migration so vieler Menschen, sei durch die oft als „Schnee von gestern“ bezeichnete Ausplünderung der Entwicklungsländer zu Zeiten der Kolonialisierung verursacht. Weitere Fluchtursachen sieht sie im Neoliberalismus sowie in der Kriegspolitik des Westens: In den letzten 200 Jahren habe kein muslimisches Land gegen ein westliches Krieg geführt, umgekehrt haben muslimische Länder über 20 Kriege und Invasionen des Westens erduldet. Der Stopp von Kriegseinsätzen westlicher Länder und das Einstellen der Waffenexporte würden langfristig Fluchtursachen beseitigen.
Hasnain Kazim schreibt über die Situation syrischer Flüchtlinge in türkischen Flüchtlingscamps und türkischen Städten, über deren kärgliche Unterbringung und Versorgung sowie, wenn überhaupt vorhanden, prekären Arbeitsmöglichkeiten.
Stefan Buchen legt die Widersprüchlichkeit offen zwischen der von Kanzlerin Merkel im Sommer 2015 angestoßenen Willkommenskultur und der bundesdeutschen Politik, die seit 2011 vehement versucht, die Einreise von Flüchtlingen zu verhindern (Verfolgung von Schleppern, Frontex, Hilfe bei dem Bau von Grenzzäunen). Er zeigt auf, dass die Bekämpfung der Schlepper keinen Beitrag zur Bewältigung des Flüchtlingskrise leistet und legt auf der Grundlage sorgfältiger Recherchearbeit, für die er Zugang zu sämtlichen polizeilichen Ermittlungsakten hatte, dar, wie Helfer syrischer Flüchtlinge im Zuge bundesdeutscher Strafverfolgung und medialer Berichterstattung kriminalisiert werden.
Ingo Werth beschreibt die Tätigkeit des ausschließlich durch Spenden finanzierten Vereins Seawatch e.V. und schildert eindrücklich die Bergung eines Flüchtlingsbootes auf hoher See zwischen Lybien und Lampedusa.
Simone Schmollak beleuchtet die Situation speziell von Frauen und Saskia Höll die von Kindern und Jugendlichen in den Herkunftsländern, auf der Flucht sowie während des Asylverfahrens in Europa.
Gabriele Gillen geht der Frage nach, wo der Beginn der Festung Europa ist. Sie sieht ihn beispielsweise in dem Bau von europäischen Grenzzäunen, im Export von Grenzüberwachungssystemen an nordafrikanische Staaten, im Ausbau von Frontex, im Errichten von Hotspots in Italien und Griechenland, deren Aufgabe langfristig darin bestehen wird, soviele Flüchtlinge wie möglich abzuweisen.
Um die Besonderheit der jetzigen Migrationswelle zu begreifen, führt Herfried Münkler die Beschaffenheit von Migrationsbewegungen der Vergangenheit vor Augen, z.B. die der germanischen Stammesverbände oder der europäischen Auswanderung nach Nordeuropa.
Jochen Oltmer wirft einen Blick zurück in die Geschichte des Asyls und beschreibt die Veränderungen im Asylrecht der BRD seit der Schaffung des Artikels 16 Absatz 2 des Grundgesetzes in den Jahren 1948/49.
Patrick Gensing schildert die Aktivitäten rechter Gruppen, die sich im Netz und auf der Straße der Hetze gegen Flüchtlinge verschrieben haben.
Thomas Straubhaar beleuchtet das Phänomen der Flüchtlingszuwanderung von der ökonomischen Seite und stellt den Zusammenhang zwischen ökonomischer Theorie und aktueller ökonomischer Praxis dar.
Pauline Endres de Oliveira beschreibt die Entwicklung des Asylrechts, angefangen von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948, über Artikel 16, Absatz 2 im Grundgesetzt der BRD, die Genfer Flüchtlingskonvention 1951, das Schengener Abkommen von 1985, die Änderung im Grundgesetz hin zur Drittstaatenregelung durch Artikel 16a.
Naika Foroutan bringt den Begriff „postmigrantische Gesellschaft“ ins Spiel und definiert unsere Gesellschaft als eine solche, die über das, was nach der Migration geschieht sowie darüber, „wer ‚wir‘ sind und wer zu diesem Wir gehört“, nachdenkt.
Bernd Parusel beleuchtet die schwedische Zuwanderungs-, Asyl- und Integrationspolitik. Es werde deutlich, warum viele Flüchtende in Schweden Zuflucht suchen wollen. Allgemein gelte die schwedische Gesellschaft als integrationsfreundlich, trotz der rechtsextremen „Schwedendemokraten“ die in Meinungsumfragen immer mehr Zustimmung erhalten. Zudem zeige sowohl die Asylpolitik im allgemeinen als auch temporäre Regierungsinitiativen, dass der Wille, Geflüchtete zu integrieren, nicht nur von der Bevölkerung sondern auch vom Staat ausgeht.
Schließlich geht Heribert Prantl mit der europäischen Flüchtlingspolitik hart ins Gericht. Er führt das Bild der Flucht der Israeliten aus Ägypten vor Augen, und beklagt, dass Europa für den heute stattfindenden Exodus keine den europäischen Werten entsprechende Hilfe gibt, dass sich das Meer, um in dem Bild vom Exodus zu bleiben, für die heute Fliehenden nicht öffnet.
Erwähnenswert sind auch die im Band enthaltenen Fotoporträts von Menschen auf der Flucht und die im Einband abgedruckte Landkarte mit den Hauptflüchtlingsrouten.
Alles in allem ist die Lektüre des im Verlag rowohlt POLARIS erschienenen Bandes sehr zu empfehlen. Die Beiträge geben fundierte Informationen zum Thema, zumal sie hinter die Kulissen dessen, was in normalen Nachrichtensendungen übermittelt wird, schauen. Manche Beiträge lesen sich ganz flüssig, für andere muss man sich einfach ein bisschen mehr Zeit nehmen. Auf alle Fälle: Die Lektüre lohnt sich! – Nicht nur wegen der Gänsehaut, die sie einem mitunter über den Rücken jagt. Denn am Ende ist man schlauer geworden und hat ’ne Hilfe bekommen für die Meinungsbildung im Wirrwarr der Ansichten zum Thema Migration und Flucht.
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Brigitte Muth-Detscher