Auf der Flucht

Auf der Flucht

El-Gawhary, Karim, Schwabeneder, Mathilde: Auf der Flucht. Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers. Wien 2015, 188 S., ab Kl. 9

Die Verfasser erzählen von Menschen, die aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, dem Sudan, Eritrea, Somalia, Gambia und Nigeria vor Krieg, Hunger, Diktatur und Terror nach Europa geflohen sind.

Die wohl größte Stärke des Buches liegt darin, dass die Geflüchteten hauptsächlich selbst zu Wort kommen. Ihre Erfahrungsberichte ermöglichen eine unmittelbare Konfrontation mit dem Geschehenen. Gerade die Hintergründe und Ausgangsbedingungen ihrer Flucht werden von den Betroffenen ausführlich beschrieben. Aus diesen Schilderungen geht hervor, dass die Flucht fast in jedem Fall lebensnotwendig war.

Erschreckend sind die geschilderten Frauenschicksale durch die Verbrechen der Terrormilizen des „Islamischen Staates“ (IS) und der menschenverachtende Zynismus der Schlepper, die trotz zumeist horrender Preise den Fliehenden beinahe Unerträgliches zumuten.

Geschildert wird auch das Elend in den großen Flüchtlingslagern jenseits des Mittelmeers. So etwa leben allein in der libanesischen Bekaa-Ebene nahe der syrischen Grenze über 200.000 Menschen auf engem Raum, zusammengepfercht in nur notdürftig mit Planen abgedeckten Verschlägen, unter kaum erträglichen hygienischen Bedingungen.

Erzählt wird aber auch von der Solidarität der Fliehenden untereinander und von Menschen, die ihnen Beistand leisten, teilweise unter Einsatz des eigenen Lebens, z.B. Fischern, Marinesoldaten, Ärztinnen und Ärzten. Deutlich wird zugleich, wie schwer die Helfer damit zurechtkommen, dass sie zumeist nur einen Teil der Schiffsbrüchigen retten konnten, gerade unter schwierigen Witterungsverhältnissen oder bei Nacht. Zudem beklagen viele Engagierte die oft großen bürokratischen Hindernisse und die fehlende Unterstützung von Regierenden in der Europäischen Union. In diesem Zusammenhang wird auch die Ohnmacht der Autorin und des Autors beklemmend spürbar, etwa bei ihren vergeblichen Bemühungen, einer jesidischen Frau, Opfer des IS-Terrors, die Ausreise in ein sicheres europäisches Land zu ermöglichen (S. 70–72). Ein italienischer Arzt sagt: „Es stört mich unglaublich, dass Flüchtlinge nur mehr als Zahlen in irgendwelchen Statistiken vorkommen. Gesichtslose, mathematische Größen, die beliebig verschoben oder sogar ausradiert werden können“ (S. 143). Gerade dieser Denkweise wirkt das Buch entgegen: So erfahren wir nicht nur die Namen der zu Wort kommenden Geflüchteten, sondern finden einige von ihnen auch auf den Farbfotos der Publikation wieder.

Neben der Ungewissheit um das Schicksal zurückgebliebener Angehöriger leiden die Befragten am meisten darunter, für längere Zeit auf finanzielle Unterstützung anderer angewiesen zu sein, selbst hochqualifizierte, wie ein promovierter Saatgutforscher aus Syrien (S. 183f). Zudem möchten die meisten schnellstmöglich in das jeweilige Heimatland zurückkehren, sobald die Rahmenbedingungen dies wieder erlauben.

Verdeutlicht werden immer wieder organisatorische Hürden bei der Unterstützung der Geflüchteten. So erweist es sich oft als schwierig, genügend kompetente Helferinnen und Helfer zum Erteilen von Deutschunterricht zu finden. Wer in Österreich als Asylbewerber anerkannt ist, muss innerhalb von vier Monaten Arbeit und Wohnung finden, um diese Zulassung nicht wieder zu verlieren.

Ermutigend ist vor allem das abschließende Kapitel des Buches über ein österreichisches Dorf, in dem zahlreiche Geflüchtete Unterkunft gefunden haben: Nach anfänglich großem Widerstand der Bevölkerung gelingt die Integration der Migrantinnen und Migranten überraschend gut, auch wenn deren Privatunterbringung in kleineren Wohneinheiten noch nicht verwirklicht werden konnte. Neben haupt- und ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern kommen aber auch Personen zu Wort, die sich mit der neuen Situation nach wie vor schwertun.

Die Erfahrungsberichte des Buches sind in besonderer Weise geeignet, Verständnis und Anteilnahme zu vermitteln, Hochachtung vor der Tapferkeit und dem oft noch erstaunlich großen Lebensmut der Betroffenen. Bei aller Deutlichkeit wahren die Verfasser stets Zurückhaltung, wodurch sie auch davon absehen, die erlittenen Menschrechtsverletzungen der Geflüchteten im Detail wiedergeben.

Schülerinnen und Schülern ab der 9. Jahrgangsstufe kann mit Hilfe ausgewählter Erzählungen des Buches die große Not von Geflüchteten sehr authentisch vermittelt werden. Gerade weil die Publikation auf moralische Appelle verzichtet, vermag sie das Gewissen und die Verantwortungsbereitschaft der Leserinnen und Leser umso eindringlicher zu wecken und anzusprechen.

Josef Gottschlich

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