Die Passion Christi – ein historisch-kritischer Blick auf die Evangelien

Zwick, Reinhold; Lentes, Thomas: Die Passion Christi. Münster: Aschendorff Verlag, 2004, 224 S., Verleih-Nr. im Medienportal Freiburg: 2110066

Das Buch enthält eine Sammlung verschriftlichter Referate von Theologen, Kunsthistorikern und Mediävisten, die vor acht Jahren bei einer Tagung in Münster gehalten wurden. Vordergründig ging es hierbei um Mel Gibsons umstrittenen Film The Passion of the Christ, doch werden in dem Band zugleich auch grundlegende Reflexionen geäußert, wie die Leidensgeschichte Jesu in unserer Zeit adäquat vermittelt werden kann – in der Glaubensverkündigung, im Gespräch mit Anderen oder auch in Kunstwerken.

Im Einleitungsreferat nimmt Otto Huber, zweiter Leiter der Oberammergauer Passionsspiele von 1990 bis 2000, zu dieser Frage Stellung. Ihm ist vor allem die Einbettung der Leidensgeschichte Jesu in einen größeren theologischen, auch interreligiösen Kontext wichtig (Mk 14,24: „mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird“). Dieses Anliegen führte zur gründlichen Überarbeitung des Oberammergauer Textes zum Jahr 2000, wodurch das Passionsspiel auch von alten Antijudaismen gereinigt wurde: Jesus wird seitdem eindeutig als Jude gezeigt, die Pharisäer erscheinen nicht mehr als uniforme Gruppe und in den Massenszenen wird deutlich, dass Jesus im Volk neben einigen Gegnern auch viele Verbündete hatte. Ebenso soll erkennbar werden, dass Christus auch in den letzten Stunden seines Lebens nicht nur ein passiv Erduldender war: Er hat sich aus freiem Willen dazu entschieden, seinen Weg bis zum bitteren Ende zu gehen und verfügte bis kurz vor seiner Verhaftung noch über alle Möglichkeiten, diesem grausamen Schicksal zu entgehen, war keinesfalls nur Getriebener und Ergebener.

passion christiThomas Lentes betont demgegenüber in seinem Aufsatz, was durch Passionsspiele oder –verfilmungen vor allem beim Betrachter ausgelöst werden soll: Anteilnahme und Empathie, auch selbstkritisches Nachdenken. Ist es hierzu aber hilfreich, die Passionsberichte der Evangelien in drastischer Form zu radikalisieren oder das Leiden Christi allzu veräußerlicht auf seinen physischen Schmerz, seinen geschundenen Körper zu reduzieren? Gelingt es tatsächlich nur auf diese Weise, die immense Größe des Opfers Jesu deutlich zu machen? Kann dadurch wirklich ein tieferes und nachhaltigeres Mitgefühl beim Zuschauer hervorgerufen werden? Wäre es anstelle höchst fragwürdiger Effekthascherei nicht sinnvoller, das seelische Leid und die Einsamkeit Jesu stärker zu betonen, zum Beispiel in Anknüpfung an  Mt 23,37: „Jerusalem, Jerusalem, die du die Propheten tötest und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken unter die Flügel sammelt, aber ihr habt nicht gewollt!“

Insgesamt ist wichtig, gerade das Passionsspiel nicht den modernen Strömungen der Kunst anzugleichen, in denen ein übermäßig starkes Interesse an Verfall, Verwundung und Tod auffällt, was unter anderem den großen Erfolg der Ausstellungen Körperwelten (Gunther von Hagens) erklärt. Dies ist das Hauptanliegen im Textbeitrag des Kunsthistorikers Reinhard Hoeps. Gerade aus dem Passionsgeschehen sollte ja eine besonders intensive Sehnsucht nach Heilung, nach Vergebung und nach Leben hervorgehen, sowie die Motivation, auch selber alles Menschenmögliche dafür zu tun, dass Schuld und Leid eben nicht das letzte Wort haben. Hieran gemahnen zum Beispiel die sechs Worte der Barmherzigkeit in Mt 25,35-36, welche der Passionsgeschichte im Matthäus-Evangelium unmittelbar vorausgehen.

Reinhold Zwick und Martin Ebner gehen in ihren Beiträgen vor allem der Frage nach, inwieweit die Passionsberichte der Evangelien (und auch Darstellungen der Leidensgeschichte in der christlichen Tradition) durch bewussten oder auch unbewussten Antijudaismus verdunkelt sind. Vieles hiervon wurde durch die historisch-kritische Forschung bereits zurecht gerückt. So hat der römischen Brauch, dem Volk zum Paschafest einen Gefangenen freizugeben, höchstwahrscheinlich nie existiert, wodurch die Barrabas-Episode der Passionsberichte höchst zweifelhaft wird. Gleiches gilt für den „Blutruf“ in Mt 27,25 und erst recht für den Zusatz, das ganze Volk habe ihn geäußert. Zudem ist bekannt, dass jeder, der auch nur die leiseste Hoffnung weckte, vielleicht der erwartete und erhoffte Messias zu sein, von der großen Mehrheit des jüdischen Volkes große Unterstützung erhielt oder zumindest in seinen Bemühungen nicht beeinträchtigt wurde. Selbst mit dem gescheiterten Bar Kochba (gest. 135 n.Chr.), der die zunächst geweckten großen Erwartungen bitter enttäuscht hatte, wurde vergleichsweise milde und nachsichtig umgegangen. Ferner ist bekannt, dass Pontius Pilatus selbst mit denjenigen kurzen Prozess machte, die auch nur den leisesten Verdacht weckten, politische Gegner Roms zu sein und einen Volksaufstand anzuzetteln; sehr vieles spricht dafür, dass Jesus von ihm sogar standrechtlich zum Tod am Kreuz verurteilt wurde, also ohne vorherige Gerichtsverhandlung und ausführliches Abwägen des Für und Wider, wie es uns etwa durch den Passionsbericht des Evangelisten Johannes vermittelt wird (vgl. Joh 18,28-19,15).

Martin Ebner schließt dennoch eine gewisse Mitverantwortung einzelner jüdischer Gruppierungen am Tod Jesu nicht aus (ähnlich wie Wolfgang Reinbold in seinem Aufsatz Der Fall Jesus von Nazaret: Anklage, Verhör und Urteil im Heft Pilatus und der Prozess Jesu (Welt und Umwelt der Bibel, 2/2010)). In diesem Zusammenhang wird neben der kritischen Hinterfragung des Tempelkultes in Joh 4,19-24 vor allem ein Wort Jesu erwähnt, obwohl es von ihm wohl nur als Metapher für seinen Tod und seine Auferstehung gemeint war: „Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in drei Tagen wieder aufbauen“ (Mt 26,61), denn dieses zentrale, sakrale Bauwerk galt im Judentum als Ort des Heiligtums, als Heimat Gottes. Weiterhin waren die Tempelpriester (Sadduzäer) sehr darauf bedacht, jeden Konflikt mit Rom sorgsam zu vermeiden – der immer bekannter werdende Jesus stellte diesbezüglich eine Gefahr für sie dar. Zudem machte er sich auch durch Kritik an der Art der Religionsausübung seiner Glaubensbrüder (vgl. Mt 23!) bei vielen von ihnen nicht gerade beliebt, worin ein wichtiger Unterschied zu den meisten anderen Messias-Anwärtern bestand, welche die Substanz des Judentums nur von außen bedroht sahen.

Dennoch liegt die Hauptverantwortung für das Todesurteil Jesu ganz eindeutig auf Seiten der Römer – in diesem Punkt sind sich die Autoren des Buches einig. Besonders aus diesem Grund warnen sie davor, die Leidensgeschichten der Evangelien als historische Tatsachenschilderungen aufzufassen und zu vermitteln. Die eher positive Darstellung des Pontius Pilatus in den Passionserzählungen der Bibel erfolgte höchstwahrscheinlich aus taktischen Gründen, um sich nicht schon von vornherein mit der bedrohlichen römischen Besatzungsmacht zu überwerfen. Zudem zeigt Martin Ebner sehr plausibel auf, dass sich gerade in diesen Texten ein noch innerjüdischer Gruppenstreit widerspiegelt: Sie wurden zur Zeit des schmerzlichen Trennungsprozesses zwischen kleinen jüdisch-christlichen Gruppen und den Muttersynagogen verfasst, woher die Polemiken in diesen Texten hauptsächlich zu erklären sind. Solche zeitgeschichtlichen Besonderheiten erweisen sich aber längst nicht als hinreichend, um eine christlich-jüdischen Gegnerschaft oder gar einen christlichen Antijudaismus zu begründen.

Thomas Schärtl und Jürgen Werbick gemahnen in ihren Aufsätzen an ein dem christlichen Gottesbild entsprechendes Erlösungsverständnis: Es ist nicht ein zürnender, zorniger Gott, der durch ein Opfer besänftigt werden muss, sondern der menschliche Zorn, die menschliche Unversöhntheit und Lieblosigkeit sind notwendigerweise zu überwinden – durch die große Geduld eines versöhnenden Gottes. Gerade diese hat er als Sohn, als Jesus Christus in absolut beispielhafter Weise gezeigt („Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ – Lk 23,34a), und vor allem dies sollten wir von ihm lernen – was aber nicht heißt, grundsätzlich „in Verfolgung stille [zu] schweigen“, wie uns Christian Friedrich Henrici, Textdichter von J.S. Bachs Matthäus-Passion, nahelegt. Auch der geduldige, versöhnungsbereite Mensch hat das Recht auf Widerstand – aber nicht die Legitimation zur Gewalt. Nicht wer leidet, führt ein gottgefälliges Leben, sondern, wer es so gut als möglich nach dem Willen des Höchsten ausrichtet (vgl. Mt 7,21). Dieser allerdings, sehr deutlich konkretisiert durch das Beispiel Jesu, besagt eindeutig, dass es im Konfliktfall besser ist, Unrecht zu erdulden als Unrecht zu tun.

Inwieweit Jesus selbst gegen Ende seines Lebens diesen Konflikt suchte, die Konfrontation mit seinen Gegnern bewusst auf die Spitze getrieben hat, vielleicht, weil er im Verlauf seines öffentlichen Wirkens immer mutiger und kompromissloser wurde (hier zeigen sich möglicherweise Parallelen zum Leben und Sterben von Martin Luther King) wissen wir nicht genau. Im Roger Youngs Film Die Bibel: Jesus (1999) wird das nächtliches Ringen Jesu am Ölberg jedenfalls ganz wesentlich durch seine Befürchtung verstärkt, dass die Geschichte auch nach seinem Tod nicht gewaltfreier, gerechter und humaner werde. Blaise Pascal mag ebenfalls in diese Richtung gedacht haben, als er schrieb: „Bis an das Ende der Welt wird die Agonie Jesu dauern. Nicht schlafen darf man bis dahin.“ Hierin besteht auch das Grundanliegen des Buches Memoria Passionis von Johann Baptist Metz.

Abschließend soll noch über die Frage nach einer angemessenen Darstellung des Leidens und

Sterbens Jesu in der Kunst nachgedacht werden.

Hierbei ist sehr fragwürdig, den leidenden Christus derart schamlos bloßzustellen wie Mel Gibson mit seinem Film. Bedeutende Kunstwerke zur Passion vermitteln neben großer Trauer und tiefem Mitgefühl auch intensive Reue, fallen dabei aber trotzdem nicht der Hoffnungslosigkeit anheim und sehen das Geschehen eher in einem gesamten heilsgeschichtlichen Zusammenhang: Annette von Droste Hülshoffs Dichtung Gethsemane, Friedrich Spees Trutz-Nachtigall oder Georg Trakls Gesang einer gefangenen Amsel sind als Beispiele hierfür zu nennen. Noch intensiver gelingt dies in Werken der geistlichen Musik: etwa der Johannes- und Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach, dem zweiten Teil von G.F. Händels Messias, G.B. Pergolesis Stabat Mater oder J. Haydns Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze, von einem Rezensenten treffend als „Karfreitagsleuchten“ charakterisiert – teilweise auch in der Rock-Oper Jesus Christ Superstar (Ölberg-Szene!).

Ja, die Passion Christi erinnert Jahr für Jahr an unsere Schuld, persönliche sowie gemeinschaftliche – und es ist wichtig, dass sie diesbezüglich innerlich beunruhigt und aufschreckt. Aber viel eher noch will sie versöhnlich wirken, von allem befreien, was Menschen voneinander trennt und den Frieden zwischen ihnen gefährdet oder gar zerstört. Nicht erst das Osterfest, sondern schon Gründonnerstag und Karfreitag weisen in diese Richtung.

Mit diesem Maß sollten Schriftauslegung und Kunstwerke zur Leidensgeschichte gemessen werden – vor allem auch in der Zukunft und im Hinblick auf ein menschenwürdiges Leben kommender Generationen, für Christen und für Nicht-Christen.

 

Josef Gottschlich

2 Gedanken zu “Die Passion Christi – ein historisch-kritischer Blick auf die Evangelien

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