Du bist […] Gott und ich bin frei.
(Jean Paul Sartre: Die Fliegen, III. Akt [u. a.]. Reinbek 92002, S. 183)
Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist:
die Freiheit eines Lieben nicht vermehren
um alle Freiheit, die man in sich aufbringt.
(Rainer Maria Rilke: Requiem für eine Freundin. In: Ders.: Die Gedichte. Leipzig 72012, S. 598)
Striet, Magnus: Ernstfall Freiheit. Arbeiten an der Schleifung der Bastionen. Freiburg 2018, 160 S.
„Die Freiheit macht nicht wahr, sondern es gibt ein Handeln aus Freiheit, das dann, wenn es frei sein will, Gründe für sich aufbringt. Andernfalls wäre es nicht frei, sondern unfrei“ (S. 9).
Mit dieser Ausgangsüberlegung beginnt Magnus Striet sein Plädoyer für die das Primat der Freiheit vor allen anderen philosophisch-theologischen Grundphänomenen und -begriffen.
Striet antwortet mit diesem Buch auf die Publikation Macht die Wahrheit frei oder die Freiheit wahr? des emeritierten Dogmatik-Professors Karl-Heinz Menke. Während Menke der durch das kirchliche Lehramt gehüteten Wahrheit den Vorrang gab, wendet sich Magnus Striet entschieden gegen jede Art von bloß formalem Glaubensgehorsam und begründet diesen bereits mit dem Verweis auf biblische Erzählungen wie der beinahe erfolgten Opferung Isaaks durch Abraham (S. 19).
Für Striet setzt Gehorsam zum einen immer überzeugte Einsicht voraus; zum anderen solle und dürfe es im Zusammenhang mit sittlichem Handeln oder sittlichen Entscheidungen, auch im innerkirchlichen Bereich, keine Fremdbestimmung oder gar Indoktrination durch andere geben. Ähnlich wie Jürgen Habermas, Begründer der Diskurstheorie, fordert Striet, dass letztlich zur Durchsetzung von Sollensansprüchen allein die Kultur des besseren Arguments (S. 71) gelten solle. Unabhängig selbst davon sei es aber stets allein in die Hände der/des Einzelnen zu legen, wie sie oder er sich in einer konkreten Situation letztlich entscheidet. Demzufolge fordert der Autor die „Umstellung eines religiös-metaphysischen Naturrechts auf ein Denken in Freiheitsrechten“ (S. 23). Wenn aber die Freiheit des Menschen aus der Freiheit eines persönlichen Gottes heraus gedacht und verstanden wird (S. 22), zeigt sich, dass zwischen Naturrecht und Freiheitsrechten zumindest kein unüberbrückbarer Gegensatz besteht: Denn indem der von Grund auf sittlich freie Mensch akzeptiert und auf sich nimmt, dass er sich wieder und wieder ganz aus freiem Willen zu entscheiden hat, entspricht er gerade in diesem Punkt dem Naturrecht. Zudem sind solche Entscheidungen keinesfalls immer angenehmer als anbefohlene, denn das Individuum muss dafür die alleinige und volle Verantwortung tragen, unter Umständen sogar schwerwiegende Nachteile auf sich nehmen. Auch ist hierbei eigenständiges Denken gefragt, was häufig mit großer, fortdauernder Anstrengung verbunden ist und sich nicht selten als „Denken ohne Geländer“ (Hannah Arendt) erweist.
Zudem kann eine so verstandene Freiheit nicht in Relativismus oder Beliebigkeit abgleiten, da sie stets auch der unbedingten Anerkennung der Freiheit anderer Menschen verpflichtet ist. Grenzachtendes Verhalten in jeglicher Hinsicht ist ihr folglich also ebenso zu eigen wie ein Verzicht auf jegliche Inanspruchnahme von Verfügungsrecht über andere. Den Mitmenschen niemals nur als Mittel zum Zweck zu benutzen, sondern stets auch als Selbstzweck, d.h. ihn in seiner Menschenwürde zu achten, besagt auch die zweite Formel des Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant. Damit zeigt sich zugleich eine deutliche Nähe zur Goldenen Regel (Mt 7,12) und dem jesuanischen Hauptgebot (Mt 22,37–39), an welchem „das ganze Gesetz und die Propheten hängt“ (Mt 22,40). Grundgelegt und verankert sei dieser Imperativ, so Striet, in dem Begriff eines „freiheitsfürchtige[n] Gott[es], dem Moralität und Achtsamkeit dem Leben gegenüber das Höchste im Prozess seiner Selbstbestimmung sind“ (S. 41). Striet begründet diese Gottesvorstellung auch christologisch, wenn er betont: „Wenn der Vater sich nicht so in Freiheit auf Jesus beziehen könnte, wie dieser sich auf ihn bezogen hat, dann sind Vater und Sohn nicht wesenseins und dann kann Jesus auch nicht die Selbstoffenbarung des einen Gottes sein“ (S. 89). Darüber hinaus könne nur ein freiheitlicher Gott damit konfrontiert werden, sich vor dem Unrecht und Leid in der Welt zu rechtfertigen (S. 46) – wenn alles Geschehen nämlich einer strikten Notwendigkeit unterläge, ergäbe dies keinen Sinn.
Allerdings räumt der Autor auch ein, dass die unbedingte Achtung von Menschenwürde, Menschenrechten und Autonomiefreiheit auch ohne Rückbindung an Gott möglich sei. Hochanspruchsvolle Ethikkonzepte atheistischer Denkerinnen und Denker wie etwa von Albert Camus oder Hannah Arendt belegen dies zweifellos. In der kirchlichen Tradition gelang Ähnliches hingegen oft nicht: Augustinus und Martin Luther etwa konnten diese Auffassung aufgrund ihres tiefen anthropologischen Pessimismus‘ nicht teilen: Gefangen in einer fortwährenden Hermeneutik des Verdachts, hielten sie den Menschen für zu sündig, um sich in völliger Autonomiefreiheit für das Gute entscheiden zu können. Damit folgen sie zwar biblischen Auffassungen, etwa in Gen 8,21 oder Ps 51,7, lassen aber auch deutlich optimistischere Einschätzungen, z.B. Ps 8,6; Ps 82,6 oder Mt 5,48 außer Acht. Striet schätzt die Gefahr der Selbstüberheblichkeit des Menschen aufgrund seines Freiheitsbewusstseins als nur gering ein, denn gerade dieses wecke in besonderer Weise seine Sehnsucht nach Gott, weil es ihm seine Endlichkeit und seine Grenzen vor Augen führe (S. 135): Er kann weder den Tod verhindern noch sittliche Vollkommenheit erreichen, also der Menschenwürde anderer immer nur annähernd und niemals vollständig entsprechen. Insbesondere aber drohe er angesichts der Grausamkeiten in der Menschheitsgeschichte zu verzweifeln, denn er könne der bereits verstorbenen Entrechteten, Gedemütigten und Ermordeten zwar in Trauer gedenken, „ihnen aber keine tatsächliche, ihnen selbst zukommende Gerechtigkeit widerfahren […] lassen“ (S. 148).
Von den Amtsträgern der Kirche erwartet der Verfasser den Mut zur Akzeptanz einer egalitären Freiheitswürde (S. 37), einen vorsichtig-zurückhaltenderen Umgang mit Berufung auf den Heiligen Geist, Charismen oder göttliche Legitimation (S. 93) und die Bereitschaft, all das aus der Tradition gelassen preiszugeben, was nicht (mehr) geglaubt werden könne, weil es durch besseres Wissen widerlegt sei: Die „apostolische Kirche wird auf allen Ebenen diskursiver werden und in ihrem apostolischen Selbstanspruch erlernen müssen, sich zu korrigieren, wenn Gründe es gebieten“ (S. 97).
Ebenso sind aber auch die übrigen Katholikinnen und Katholiken aufgerufen, alles ihnen Mögliche zu tun, um sowohl ihr Gewissen als auch das der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen zu bilden. Dies ist notwendig, um eine hohe moralische Sensibilität und Kompetenz zu bewahren oder zu entwickeln, damit man auch bei ethisch äußerst anspruchsvollen Konflikten den komplexen Anforderungen einer verantwortungsvollen Gewissensentscheidung gewachsen ist. Dass die Beratung durch erfahrene, liebesmotivierte Seelsorgerinnen/Seelsorger und Theologinnen/Theologen dabei hilfreich sein kann und es eher auf die Personqualität der einzelnen Beteiligten als auf die Strukturen und Verfassungsform der Kirche ankommt, sei in diesem Zusammenhang zusätzlich betont. Ebenso zu bedenken ist jedoch, dass auch innerkirchlich eine reine Orientierung an der konventionellen Moral sozial gewollten Sollens in vielen Lebenssituationen nicht ausreicht (S. 56): Hier ist der Mensch dann in der Tat unabdingbar sowohl auf vernunftgeleitete sittliche Selbstbestimmung als auch auf Autoritätspersonen angewiesen, welche ihm eine solch eigenverantwortliche Entscheidung uneingeschränkt zutrauen und ihn in festem Gottvertrauen dazu ermutigen.
Josef Gottschlich
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