Reformislam

Amirpur, Katajun: Reformislam. Der Kampf für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte. München: C. H. Beck, ³2018, 256 S.

Das Ringen um kritische Bewahrung spielt in allen Weltreligionen eine zunehmend wichtige Rolle, so auch im Islam. Dort reichen solche Bemühungen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. Da es sich beim Islam um eine von Grund auf rationale und dialogische Religion handle, sei dieser mit der Moderne auch gut vereinbar (S. 16). Die Verfasserin macht dies plausibel, indem sie auf zwei Autorinnen und vier Autoren islamischen Glaubens verweist, die sich in den vergangenen Jahrzehnten intensiv um ein neues Islamverständnis bemüht haben.

Nasr Hamid Abu Zaid (1943–2010) wuchs in Ägypten auf. In einer christlichen Privatschule mit Gebetsraum für Musliminnen und Muslime erfuhr er bereits früh Integration und Toleranz. Ein zentrales Anliegen war es für ihn, die wichtigsten Prinzipien und Werte des Korans herauszuarbeiten (S. 56) und dabei der Vernunft einen zentralen Stellenwert einzuräumen. Dabei ging es darum, den Korantext so weit wie möglich in seinem ursprünglichen Zusammenhang zu verstehen (S. 67) und den historischen Kontext beim Verständnis der einzelnen Suren mitzubedenken (S. 64). Zaids Überzeugung nach handelt es sich beim Koran um ein erschaffenes Werk, da das Wort Gottes selbst unerschöpflich und unendlich sei (S. 68 f.). Zudem verwies Zaid darauf, dass es sich bei vielen Korantexten um Redekompositionen handle, denen intensive redaktionelle Arbeit vorausgegangen sei.

Der Autor war davon überzeugt, dass es sich beim Glauben vor allem um eine Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Menschen handle, weshalb das religiöse Verständnis der jeweils Herrschenden nicht ungeprüft übernommen werden solle (S. 81). Nach Sure 42:38 seien für die Glaubensunterweisung vielmehr gegenseitige Beratung und intensive Auseinandersetzungen um Glaubensinhalte in Gesprächen ausschlaggebend. Auch deswegen könne der Koran nicht primär als Gesetzestext verstanden werden (S. 80). Insbesondere die islamische Mystik weise einen bedenkenswerten Weg zu einem ideologiekritischen Verständnis des heiligen Buches der Muslime (S. 84).

Den westlichen Staaten warf Zaid häufig politische Ränkespiele zur Durchsetzung eigener Interessen vor, welche für die undemokratischen Verhältnisse einiger Staaten im Nahen und Mittleren Osten mitverantwortlich seien. Da sich Zaid immer wieder mutig mit den geistlichen Autoritäten in Ägypten auseinandersetzte, musste er Ägypten verlassen, um trotz einer staatlich angeordneten Zwangsscheidung auch weiterhin mit Ehefrau Ebtehal Younnes zusammenleben zu können. Daraufhin wirkte er an verschiedenen Universitäten der USA, Japans und der Niederlande.

Fazlur Rahman (1919–1988) stammt aus Pakistan. Da er jahrelang in England studiert und gewirkt hatte, wurde er nach der Staatsgründung Pakistans 1947 damit beauftragt, die Regierung in religiösen Fragen zu beraten, was in dem zwischen Tradition und Moderne zerrissenen Land eine sehr anspruchsvolle Aufgabe war. Da Rahman in brisanten Fragen, etwa zu Frauenrechten, zumeist eine liberale Position einnahm und eine Übersetzung des Korans in die Landessprache Urdu befürwortete, wurde er von einflussreichen Geistlichen und strukturkonservativen Politikern aus seinem Amt gedrängt. Danach forschte und lehrte Rahman überwiegend in den USA. Er war ein strenger und analytischer, zugleich aber toleranter Gelehrter. Wichtig war ihm stets, dass der Mensch möglichst eigenständig denkt und die Verantwortung für seine Taten selbst übernimmt. Der westlichen Islamwissenschaft warf er vor, dass diese oft nur Einzelaspekte aus dem Koran herausgreife. Wesentlich kam es ihm darauf an, die Ethik des Korans, in Verbindung mit seiner Gesamtintention, zu erarbeiten. Hierzu bevorzugte er eine zweischrittige Koraninterpretation (double-movement, S. 94): Zunächst studierte Rahman den historischen Kontext, in dem der Koran entstanden ist, um so die generellen Prinzipien herauszuarbeiten, welche er vermittelt. In einem zweiten Schritt solle dann diese koranische Weltanschauung als ethischer Leitfaden auf gegenwärtige (Konflikt)-Situationen angewendet werden. Als Beispiele werden soziale Gerechtigkeit, Frauenrechte und die Wertschätzung anderer Religionen genannt. Nach den Suren 2:62 und 5:48 sei es, um Heil zu erlangen, vor allem notwendig, an Gott zu glauben und rechtschaffen zu handeln – was jedoch nicht zwangsläufig mit einer Zugehörigkeit zum Islam verbunden ist, sondern mindestens auch auf das Judentum und Christentum zutrifft.

Amina Wadud (*1952) wuchs als Tochter eines evangelisch-methodistischen Priesters in den USA auf. Im Alter von 20 Jahren konvertierte sie zum Islam. Dass ihr Vater stets für die Gleichberechtigung aller Rassen eintrat, war dabei für die dunkelhäutige Amerikanerin von wichtiger Bedeutung. Auch der Schutz der Menschenwürde und die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern sind für sie fest im Koran verankert (S. 115). Wadud sieht zwischen der Hingabe an den Willen Gottes und der Willens- bzw. Wahlfreiheit des/der einzelnen Gläubigen keinen Widerspruch. Als Initiatorin der Organisation Sisters in Islam (1989) ermutigt sie immer wieder Frauen dazu, den Koran selbst zu lesen und sich eigenständig mit ihm auseinanderzusetzen. So wird deutlich, dass dort die Rechte von Frauen auf Eigentum, Erbschaft, Bildung und Scheidung verankert sind. Auch werde die Gleichberechtigung von Männern und Frauen dadurch betont, dass Gott sie „aus einem Wesen“ geschaffen habe und beide „von der gleichen Art“ seien (Sure 4:1, S. 129).

Großes Aufsehen erregte, als Wadud im März 2005 in New York ein Freitagsgebet leitete, an dem neben Frauen auch Männer teilgenommen haben – obwohl dies im Islam grundsätzlich möglich ist, wenn sich in der betreffenden Gemeinde hierzu eine Mehrheit findet.

Bedeutsam, auch für den interreligiösen Dialog, ist Waduds Erkenntnis, dass die ethischen Fundamente des Islam, sein Einstehen für Würde, Gerechtigkeit und Gleichheit, als universalisierbare Grundwerte über den Koran hinausweisen (S. 139).

Auch Asma Barlas (*1950), geboren in Pakistan, setzt sich unermüdlich für Frauenrechte ein.

In ihrer christlichen Schule litt sie unter Diskriminierung und dem dort vorherrschenden eurozentrischen Denken. Zunächst arbeitete sie für das pakistanische Außenministerium, emigrierte dann aber nach ihrer Scheidung 1986 in die USA. In ihrer wissenschaftlichen Arbeitsweise ging sie sehr gründlich und präzise vor, bezog sich immer wieder auf viele Quellen (S. 147). Ähnlich wie Amina Wadud machte Barlas deutlich, dass im Koran kein patriarchales Gottesbild verankert ist (S. 158). Weiterhin seien nach Sure 2:177 Frauen und Männer sowohl moralisch als auch rechtlich gleichwertig; des Weiteren kämen im Koran keine fragwürdigen Zuweisungen bestimmter Arbeitsbereiche an Frauen oder an Männer vor (S. 160 f.). Im Hinblick auf seine Gesamtbotschaft trete der Koran für die Rechte von Männern und Frauen ein (S. 163). Dies werde auch im Hinblick auf den partnerschaftlichen Umgang Mohammeds mit den Ehefrauen deutlich, etwa durch seinen Verzicht auf Gewaltanwendung und seine Bereitschaft, Kritik von ihnen anzunehmen (S. 151).

Abdolkarim Soroush (*1945), aus dem Iran stammend, ist nicht nur Philosoph und Theologe, sondern auch promovierter Pharmazeut. Früh kritisierte er bereits, dass sich der Islam teilweise durch den Marxismus vereinnahmen ließ (S. 172). Soroush wendete sich zudem gegen die Erhebung eines Hoheitsanspruchs einer religiösen Führungsschicht, da diese zu einer Erstarrung des religiösen Denkens und der Verabsolutierung einer Lesart des Korans führe. Auch sei der interdisziplinäre Dialog der islamischen Theologie mit den Naturwissenschaften und anderen Kulturwissenschaften sinnvoll und notwendig.

Im Gegensatz zu Ruhollah Khomeini (1902–1989) pochte Soroush auf individuelle Freiheitsrechte gegenüber der Obrigkeit und betonte die Notwendigkeit eines zwar religiös geprägten, aber demokratischen Staates (S. 188). Insbesondere wendete er sich gegen eine Ideologisierung des Islam, welche mit der Bedeutungsvielfalt des Korans nicht vereinbar sei (S. 191). Zudem stünde im Iran das islamische Recht (Scharia) viel zu einseitig im Mittelpunkt, während Weisheitslehre/Erkenntnistheorie und Mystik, die beiden anderen Stützpfeiler des Islam, vernachlässigt würden (S. 193). 1996 führte Soroushs Kritik am Hoheitsanspruch der Geistlichkeit zum Bruch mit dem Iran und zu seiner Tätigkeit an Universitäten in den Niederlanden, Englands und den USA (S. 175 f.).

In Bezug auf den Propheten Mohammed hebt Soroush hervor, dass dieser kein willenloses Instrument Gottes gewesen sei, sondern ein zunehmend versierterer Vermittler göttlicher Offenbarungen (S. 195 f.). Hierbei habe er Gott so nahegestanden, dass seine Ausführungen zugleich weltlich und göttlich gewesen seien (S. 200).

Mohammad Mojthahed Shabestrari (*1936) stammt aus Aserbaidschan. Seine Lehrer waren unter anderem Ruhollah Khomeini und Kazem Shari’atmadari (1905–1986), einer von dessen schärfsten Widersachern. Während seines Wirkens als Professor in Hamburg (1986–1977) eignete sich Shabestrari westliche Philosophie und Hermeutik an; auch befasste er sich ausgiebig mit den evangelischen Theologen Paul Tillich und Karl Barth. Nach der islamischen Revolution im Iran 1979 wirkte er dort zunächst als Abgeordneter im Parlament mit, verzichtete dann aber nach vergeblichen Bemühungen um die Durchsetzung der Meinungsfreiheit als Grundrecht auf eine zweite Amtszeit. Shabestrati ist davon überzeugt, dass eine vernunftgemäße Koran-Hermeneutik möglich und notwendig sei, wobei auch die geschichtliche Gebundenheit menschlichen Verstehens stets beachtet werden müsse

(S. 210). Deswegen sei es unabdingbar, im Zuge der Textauslegung auch das eigene Vorverständnis immer wieder mitzubedenken und kritisch zu hinterfragen (S. 210 f.). Ebenfalls komme es entscheidend darauf an, die Entstehungsbedingungen des Korans genau zu untersuchen und viele seiner Worte (z.B. Hand Gottes, Thron Gottes) metaphorisch, also im übertragenen Sinne zu deuten.

Darüber hinaus erkannte Shabestrati in Anknüpfung an Hans-Georg Gadamer (1900–2002) dass eine völlig absichts- und interessenlose Auslegung eines Textes, also auch des Korans, nicht möglich ist. Auch sei dem Glauben im Vergleich zum Recht grundsätzlich Vorrang zu gewähren – auf der Basis von Willens- und Religionsfreiheit (S. 214).

Wichtiger Bestandteile dieses Glaubens sind Mystik und religiöse Erfahrungen, auch inneres Ringen und Zweifel. Glaubensüberzeugungen ergeben sich somit häufig erst aus langen, dialektischen Denk- und Lebensprozessen. Ein charakteristisches Beispiel hierfür sei gerade die Entstehung des Korans. Dieser könne deswegen nicht direkt von Gott stammen, da er ansonsten unverständlich sei. Der Koran sei zwar von Gott inspiriert, aber immer spreche hierin ein Mensch, der dafür auch die Verantwortung übernehmen müsse (S. 227). Dies sei gerade deshalb wichtig, da die ursprünglichen Adressaten des Korans zumeist Andersgläubige waren. Insofern erweise sich der Koran zwar als Produkt der Offenbarung und prophetische Lesart der Welt – nicht aber als die Offenbarung selbst (S. 233). Wesentlich sei neben der Akzeptanz Gottes als einzig unantastbarer Autorität vor allem die Ethik des Korans, die in erster Linie auf Gerechtigkeit und Barmherzigkeit beruhe.

Im Kapitel Die Zukunft des Islams fasst die Autorin zusammen, dass die künftige Lesart des Korans und das Verständnis problematischer Einzelaussagen, besonders hinsichtlich der Anwendung von Gewalt, von entscheidender Bedeutung sein werden. In diesem Zusammenhang erweist sich Kritik an der Monopolisierung seiner Auslegung als unverzichtbar. Vielmehr bedürfe es einer kritischen Bewahrung des Islam, zu der seine in diesem Buch vorgestellten Reformerinnen und Reformer wichtige Denkanstöße vermitteln – jenseits von Dogmatismus einerseits und Skeptizismus andererseits. Da der Islam in seiner Geschichte schon häufig Anpassungsfähigkeit und Akzeptanz von Vielfalt unter Beweis gestellt habe (S. 237) stünden auch solche Ansätze in der reichhaltigen Tradition dieser Weltreligion, deren Missbrauch zu (macht-)politischen Zwecken es künftig bestmöglich zu verhindern gelte.

Dass dabei auch eher konservative Vertreter mitwirken, zeigt der Brief von 120 Gelehrten gegen den Islamischen Staat 2014, auf den die Autorin im abschließenden Kapitel Die Tradition des Islams eingeht. Hier wird deutlich, dass renommierte Geistliche und Islamwissenschaftler aus aller Welt Zwangskonversionen, Entrechtung/Versklavung von Frauen und die Tötung Andersgläubiger, insbesondere der beiden anderen Schriftreligionen Judentum und Christentum, radikal ablehnen. Auch sei die Führung eines Angriffskrieges nicht mit dem Koran vereinbar; dieser erlaube unter bestimmten Voraussetzungen lediglich militärische Auseinandersetzungen zur Verteidigung. Der Islamische Staat rechtfertige sein Vorgehen zwar durch Berufung auf einzelne Koranverse, diese seien aber unrechtmäßig aus dem Zusammenhang gerissen worden.

Zwar werde in dem Brief nicht ausdrücklich erwähnt, dass Gewaltanwendung, auch beim Vollzug von Körperstrafen, grundsätzlich mit dem Ethos des Islam unvereinbar sei (S. 244), doch könne dieser dennoch als Schritt in eine Zukunft verstanden werden, in welcher Menschen und Freiheitsrechte auch für Musliminnen und Muslime eine tragende Rolle spielen werden.

Das Buch überzeugt durch klare, verständliche Sprache sowie große inhaltliche Dichte und Stringenz. Vor allem aber vermittelt es Hoffnung: für eine gerechtere Zukunft und im Hinblick auf einen fruchtbaren interreligiösen Dialog. Die Publikation ist in Auszügen für den Religionsunterricht ab der 9. Jahrgangsstufe geeignet, insbesondere aber für die Kursstufe in allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasien.

Josef Gottschlich

 

Das Buch kann im Medienportal der Mediathek Freiburg ausgeliehen werden.

Weitere Hinweise finden sich hier>>>.

 

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