Bordat, Josef: Ewiges im Provisorium. Das Grundgesetz im Lichte des christlichen Glaubens. Rückersdorf: Lepanto, 2019, 212 S.
Die neueste Buchpublikation Josef Bordats, promovierter Philosoph und Redakteur der katholischen Zeitung Die Tagespost, ist eine kritische Würdigung des Grundgesetzes, das 2019 sein 70-jähriges Bestehen feiert.
Völlig zutreffend betont der Autor, dass dieser Gesetzestext die Grundlage des Rechtsstaats Bundesrepublik Deutschland bildet und nach den massiven Menschenrechtsverletzungen während der nationalsozialistischen Diktatur Ausdruck einer radikalen ethischen Neuausrichtung war: Staatliches Recht wurde wieder fest mit Sittlichkeit, Vernunft und Gewissen verankert. Zugleich weist die Formulierung „in Verantwortung vor Gott“ in der Präambel darauf hin, dass der Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst weder hervorgebracht hat noch hervorbringen kann.
Zurecht betont Bordat, dass die Grundrechte sowohl an den größten ethischen Möglichkeiten des Menschen als auch an seiner hohen Verantwortung ausgerichtet sind
(S. 32 f.). Nur so sei ein Einklang zwischen persönlichem Glück und Allgemeinwohl erreichbar, das letztendlich auch nicht auf die Angehörigen der eigenen Nation begrenzt bleiben dürfe.
Im wohl anspruchsvollsten Teil seines Buches (Kurze Geschichte des philosophischen Naturrechtsdenkens in Deutschland, S. 29–52) erinnert Bordat an wichtige Voraussetzungen und Wegbereiter: Bereits im Rationalismus (17. Jh.) werden Volkssouveränität und das Recht auf Widerstand gegen Tyrannei betont (S. 35); zugleich wurde aber auch darauf hingewiesen, dass Gott die Natur von den ersten Anfängen an geordnet habe (S. 38 f.) und Gottes Wille als letzte Instanz verstanden werden müsse (S. 40). In der Aufklärung (18. Jh.) wurde das Naturrecht insbesondere mit der Unterwerfung unter den allgemeinen Willen verknüpft (S. 45). Immanuel Kant korrigierte diesen Rigorismus, indem er betonte, dass die Sittlichkeit (Moralität) über dem Recht (Legalität) stehe, zumindest im Konfliktfall (S. 47). Je mehr sich die Gesetzgebung aber nach dem Kategorischen Imperativ (S. 46) ausrichte, der an Verallgemeinerbarkeit, Gesamtinteresse und Menschenwürde orientiert ist, desto geringer könne diese Diskrepanz gehalten werden. Der Idealismus (19. Jh.) knüpft an diese Erkenntnisse an: Während J.G. Fichte einen „Vernunftsstaat“ für möglich hält (S. 48), ist F.W.J. von Schelling davon überzeugt, dass die Moralität eher von der Freiheit abhängig ist als umgekehrt (S. 49). G.W.F. Hegel schließlich weist darauf hin, dass zwischen Selbstbestimmung und Naturrecht ein gewisses Spannungsverhältnis bestehe (S. 52) – nicht zuletzt deswegen erweist sich die Aufklärung als ein durchaus dialektisches Phänomen.
In den abschließenden Schlussfolgerungen (S. 53 f.) verweist Bordat auf die zentrale Problematik einer Letztbegründung der Verbindlichkeit des Rechts, oder, genauer, der Grundnorm Leben in Würde soll sein als unabdingbarer Basis von §1 des Grundgesetzes.
Solche Letztbegründungen haben den Vorteil, dass sie sowohl Gläubigen als auch Humanistinnen und Humanisten den Weg zu einer Zustimmung und Befolgung ebnen. Bordat erwähnt in diesem Zusammenhang Platon, Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel:
– Platon betonte, dass alles, zumindest alles geisteswissenschaftliche, Lernen und
Erkennen erinnerndes und (wieder-) entdeckendes Lernen und Erkennen sei. Mit diesem
Objektiven Idealismus vertritt er eine klare Gegenposition zum heute weit verbreiteten
Konstruktivismus, der besagt, dass jeder Mensch (nur) seine eigene Wahrheit finden könne.
– Habermas vermittelt in seiner Diskurstheorie, dass zur Wahrheitsfindung ein Dialog im
möglichst herrschaftsfreien Raum notwendig sei, bei dem sich immer wieder die Kraft des
besseren Arguments als entscheidendes Kriterium erweisen müsse.
– Apel verwies darauf, dass in radikalen Zurückweisungen grundsätzlich gültiger Sätze
ein Selbstwiderspruch zutage tritt, etwa in den Postulaten, dass keine unbedingt
gültigen Sätze existierten oder man solchen mithilfe der Sprache nicht näher kommen
könne.
Ergänzt werden können diese Letztbegründungsansätze noch durch die Notwendigkeit existenzieller Empirie: Wohl nur diejenigen, welche die Tragfähigkeit eines Sollensanspruchs wirklich erfahren haben, werden diesem mit tiefster innerer Überzeugung zustimmen und ihre Lebenspraxis langfristig und unbeugsam daran ausrichten.
Für gläubige Menschen ergibt sich als weitere, ursprünglichste Säule der Letztbegründung die Offenbarungswahrheit – infolge des Glaubens an einen persönlichen, dem Menschen zugewandten Gott. Dies entfaltet Bordat im nächsten Kapitel seines Buches. Bereits polytheistische Religionen erkannten im Naturrecht, den „ersten Dingen“, einen Akt „göttlicher Selbstmitteilung“ (S. 56). Die Bibel sieht Gott als obersten Richter (z.B. in
Psalm 7); zudem sind den Schöpfungserzählungen (Genesis 1/2) zufolge alle Menschen frei und gleichberechtigt erschaffen (S. 60). Weiterhin erweise sich für Gläubige Gott stets als „letzter Bestimmungsgrund“ von Vernunft und Gewissen (S. 69).
Bordat betont, dass auch Nicht-Glaubende der Aussage „im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“ in der Präambel des Grundgesetzes häufig zustimmen, weil diese vor allem als Demutsformel verstanden werde: Viele bezweifeln, ob der Mensch Gutes ausschließlich aus eigener Kraft erkennen und bewerkstelligen könne.
In einer der wichtigsten Aussagen seines Buches weist der Autor auf die Notwendigkeit von Prüfkriterien für Gewissenentscheidungen hin: Das eigene Befinden und „Sachzwänge des Zeitgeistes“ dürften hierfür nicht genügen (S. 75). Daher müssten (gewaltfreie) Formen der Gewissensprüfung immer neu entwickelt werden (S. 152), damit sich der Mensch solche Entscheidungen nicht zu leicht mache und sie nicht im Kontext einer „subjektivistischen Willkürmoral“ (S. 133) zustande kämen. Auch sei es unerlässlich, das Gewissen zu schärfen – wozu es wohl vor allem der Bildung einer hohen moralischen Sensibilität und einer intensiven Einübung in Perspektivwechsel bedarf.
Im anschließenden Kapitel Würde wird betont, dass Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) im Gegensatz zu allen anderen Paragraphen unaufhebbar ist. Die Würde betone sowohl die Gottebenbildlichkeit und Unersetzlichkeit jedes einzelnen Menschen (etwa in Anknüpfung an K.C.F. Krause) als auch seine Unverfügbarkeit für andere; er darf (nach Kant) nie nur Mittel zum Zweck, also keinesfalls bloßes Objekt sein. Für Gläubige und auch metaphysisch offene Denkerinnen und Denker, etwas Karl Jaspers, steht diese Würde zudem nicht in der eigenen Verfügungsgewalt, sondern ist ihnen geschenkt, ihrem Zugriff letztlich entzogen – womit auch der freien Selbstbestimmung gewisse Grenzen gesetzt sind. Des Weiteren entziehe Gott dem Menschen die Würde auch dann nicht, wenn dieser die Möglichkeiten seines Personseins verfehlt habe, was mit Verweis auf das Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lk 15,11–32) entfaltet wird (S. 90).
Im Kapitel Leben (Grundgesetz, Artikel 2,2) erweist sich Bordat vor allem als überzeugender Verfechter für das Lebensrecht von ungeborenen Kindern – denn dieses beginne biologischen Erkenntnissen zufolge bereits mit der Befruchtung einer Eizelle (S. 113) und bedürfe keiner Zustimmung Dritter (S. 124). Abtreibungen könnten von daher nicht auf ein Selbstbestimmungsrecht zurückgeführt werden. Auch werde die im Gesetz erwähnte „zumutbare Opfergrenze“ häufig zu niedrig angesetzt (S. 133). Weiterhin kritisiert Bordat die gängige, ergebnisoffene Beratungspraxis als „formalisiertes Standardverfahren“, in dem allzu oft „leidenschaftslose Neutralität“ zutage trete (S. 131) und rechtfertigt in diesem Zusammenhang den Ausstieg der Katholischen Kirche aus diesem Procedere. Zutreffend räumt er aber auch ein, dass sich das Strafrecht zur Eindämmung von Abtreibungen letztlich nicht eigne (S. 134) und ein Lebensschutz nicht gegen die Mutter, sondern nur mit der Mutter möglich sei (S. 138). In diesem Zusammenhang sollte nicht verschwiegen werden, dass ein hoher Prozentsatz von Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, von ihrem jeweiligen Partner (manchmal auch den Eltern) massiv dazu gedrängt worden sind und viele allein erziehende Mütter in Deutschland, auch solche mit abgeschlossener Berufsausbildung, nur knapp über oder sogar unter der Armutsgrenze leben. Zum moralischen Bewusstseinswandel (S. 134) den Bordat im Kontext mit dem Lebensschutz von Embryonen völlig zurecht anmahnt, sollte auch die Änderung dieser beklagenswerten Zustände gehören.
Im Kapitel Freiheit (Grundgesetz, Artikel 4) wird neben dem bei genauem Hinsehen äußerst anspruchsvollen Phänomen der Gewissensfreiheit (s.o.) vor allem die Religionsfreiheit betont und diskutiert. Dabei gelte es zu beachten, dass die Ausübung ihrer jeweiligen Religion (bis hin zum Privatbesitz einer Bibel) vielen Menschen ein derartiges Herzensanliegen sei, weshalb deren Verbot zu einer schwerwiegenden Identitätskrise führen würde (S. 149). Weiterhin plädiert Bordat für einen Konfrontationspluralismus (S. 158): Religionsausübung, freilich immer in gewaltfreier Form und jenseits von spirituellem Missbrauch, darf (und soll!) gesellschaftlich also durchaus auch anstößig sein – gerade zum Schutz der Würde aller Menschen. Des Weiteren solle die im Grundgesetz festgehaltene staatliche Wertneutralität nicht mit Wertfreiheit oder Wertabstinenz gleichgesetzt werden
(S. 160). In diesem Zusammenhang habe der Staat das Recht und die Aufgabe, eine Religion je eher zu unterstützen, desto mehr diese im Dienst der Interessen des Gemeinwohls und der Menschenrechte stehe (S. 161).
Im Kapitel Kirche (Grundgesetz, Artikel 137) verweist der Autor sowohl auf die Trennung von Kirche und Staat in Deutschland als auch auf sinnvolle Formen der Zusammenarbeit beider Institutionen, etwa das Erheben von Kirchensteuer und das staatliche Zugeständnis eines kirchlichen Arbeitsrechts (S. 183). Auch werden finanzielle Einnahmen, oft gepaart mit Win-win-Situationen für Kirche und Staat (z.B. bei Kirchentagen oder im Zusammenhang mit sozialem Engagement) mit der bedenkenswerten Erkenntnis gerechtfertigt: „Wir brauchen eine wohlhabende Kirche – für die Armen“ (S. 191).
Im abschließenden Kapitel Zukunft macht Bordat deutlich, dass das Grundgesetz – obwohl nach dem Willen seiner Verfasser als Provisorium für Korrekturen und Ergänzungen ausdrücklich offen – schlank bleiben müsse und nicht zu unübersichtlich werden dürfe
(S. 201). Dennoch sei eine Erweiterung um wirklich zentrale, für eine gelingende Zukunft hochbedeutsame Themen, wünschenswert und notwendig. Vor allem die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit (S. 197) wird in diesem Zusammenhang ausdrücklich erwähnt und hervorgehoben. Die gegenwärtig diskutierte Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz sieht der Autor jedoch eher skeptisch, weil dadurch der Staat in seiner dann deutlich erweiterten Wächterfunktion die Elternrechte allzu sehr beschneiden könne (S. 205 ff.).
Resümierend sei festgehalten, dass Josef Bordat, wie bereits in den bisherigen Buchpublikationen, auch mit seinen Ausführungen zu Grundgesetz, Recht, Ethik und Religion annähernd uneingeschränkt zu überzeugen weiß: durch klare, verständliche Sprache, große inhaltliche Dichte und Stringenz, ein erfreulich eindeutiges Ethos der Menschenfreundlichkeit und eine innere Haltung, die im Konfliktfall stets Primärtugenden den Vorrang vor Sekundärtugenden einräumt – auch wenn damit ein hoher sittlicher Anspruch verbunden ist, der Menschen, insbesondere Gläubigen, durchaus viel abverlangt, aber auch Erstaunliches zutraut.
Kapitel 2 (S. 29–52) ist für den Religionsunterricht der Kursstufe empfehlenswert; die übrigen Abschnitte eignen sich, zumindest in Auszügen, ab der neunten Klassenstufe für Realschule und (berufliches) Gymnasium.
Josef Gottschlich
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