Mutiges Engagement für eine an der Menschenwürde von Missbrauchsbetroffenen und der Gleichberechtigung von Frauen ausgerichteten Kirchenreform

Religion hat auch ein Bewusstsein dafür wachzuhalten, was vermisst wird.

(Michael Seewald, Dogmatiker, im Gespräch mit Christiane Florin, Deutschlandfunk, 03.12.2019)

Die Welt braucht glückliche Frauen.

(Ernst Gutting: Offensive gegen den Patriarchalismus, Freiburg 1987, S. 161)

Florin, Christiane: Trotzdem! Warum ich versuche, katholisch zu bleiben. München 2020, 176 S.

„Was ihr dem Geringsten meiner Brüder [Geschwister] getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus in Matthäus 25,40 in seiner Rede vom Weltgericht. In diesem Bibeltext geht es zunächst um Werke der Barmherzigkeit für elementar Hilfsbedürftige, dann aber auch um das schwere Versäumnis unterlassener Hilfeleistung ihnen gegenüber. Zurecht mahnt Christiane Florin dieses vor allem im Hinblick auf Betroffene von sexueller Gewalt an, ganz besonders gegenüber Minderjährigen.

Grundsätzlich drängt sich hierbei zunächst die Frage auf, was nötig ist, um das ganze Ausmaßihres Leids, ihrer Demütigung und Entwürdigung, so eindringlich wahrzunehmen wie es notwendig wäre. Hierzu bedarf es wohl, Betroffene entweder persönlich zu kennen oder sich entsprechende Dokumentarfilme und Erfahrungs- oder Abschlussberichte eingehend anzueignen.
Christiane Florin, Katholikin, Politikwissenschaftlerin und Journalistin, hat nicht nur dies getan sondern, auf deren Bitte hin, mit vielen Missbrauchsbetroffenen gesprochen. Ihre Reaktion zeigt, dass die Autorin eindeutig zu denjenigen gehört, die im Sinne Jesu das Leben und die Welt aus der Perspektive tief Benachteiligter, Ausgebeuteter und schwer Verwundeter betrachten und ihnen, soweit als möglich, zu ihrem Recht verhelfen möchte (z.B. S. 173). Dies ist unverkennbar das Hauptanliegen ihrer Publikation, deren gelegentliche Polemik und Schärfe wohl insbesondere der Brisanz und Dringlichkeit dieses Anliegens geschuldet ist. Die Verfasserin stellt (wie in anderem Zusammenhang auch Pater Klaus Mertes) klar, dass ihre eigene Sozialisierung in der katholischen Kirche überwiegend angstfrei und erfreulich verlaufen ist. Gerade dies macht ihren Einsatz für die Betroffenen umso anerkennenswerter.

Die Autorin beklagt anhand konkreter Beispiele Vertuschungen in der Aufdeckung und Strafverfolgung von sexuellem Missbrauch (S. 22 ff.); stattdessen werde häufig „anti-intellektueller Sprühnebel als Heiliger Geist verkauft“ (S. 84). Zurecht pocht Florin darauf, dass die einzelnen Täter persönliche Verantwortung für ihre Straftaten übernehmen und deren Vorgesetzte, die jeweiligen Diözesanbischöfe, sie dazu drängen und ihre eigene Verantwortung wahrnehmen. Dies wäre deswegen von großer Wichtigkeit, weil insbesondere ein solches Schuldeingeständnis und eine angemessene Bestrafung die Betroffenen dabei unterstützen würden, Gefühle von Missachtung, Hass, Ohnmacht und Resignation zu überwinden.

Da sich Betroffene aus verständlichen Gründen oft erst nach vielen Jahren oder gar Jahrzehnten über die an ihnen begangenen Verbrechen äußern, tritt Florin des Weiteren zurecht dafür ein, Verjährungsfristen für sexuellen Missbrauch Minderjähriger und für Vergewaltigung grundsätzlich aufzuheben.

Dass Machtmissbrauch sich auch in spiritueller Form äußern kann, macht die Autorin mit Verweis auf entsprechende Publikationen von Doris Reisinger-Wagner deutlich. Darüber hinaus stellt Florin in diesem Kontext aber auch die Menschenfreundlichkeit katholischer Sexualmoral radikal in Frage, insbesondere deren häufig kritikwürdige Umsetzung in der seelsorglichen Praxis vor allem früherer Jahre, etwa im Verlauf von Beichtgesprächen (S. 114 ff.). Neben dieser Aufdeckung von Grenzverletzungen gegenüber Gläubigen verweist die Autorin darauf, dass Äußerungen von Jesus zu diesem Thema, über seine Bekräftigung der ehelichen Treue hinaus, im Evangelium nicht anzutreffen sind und dass Gläubige in Partnerschaftskonflikten hierfür überwiegend andere Gründe benennen als Schwierigkeiten mit der Sexualität: etwa Armut, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit oder mangelndes Selbstwertbewusstsein (S. 119).

Das dritte Thema der Publikation ist die Gleichberechtigung von Frauen in der katholischen Kirche, wobei Florin an die Ausführungen ihres Buches „Weiberaufstand“ (München 2017) anknüpft. Zurecht betont die Autorin, dass sich sowohl im Neuen Testament als auch in der kirchlichen Tradition keine überzeugenden Argumente finden lassen, um Frauen vom Diakonats- und Priesteramt in der katholischen Kirche auszuschließen. „Es gibt keinen Jesus-Satz der Sorte: ‚Ich aber sage euch, ihr Frauen dürft ausschließlich …‘ (S. 125). Auch hebt Florin mit guten Gründen die Fragwürdigkeit einseitig männlicher Gottesvorstellungen hervor.

Ähnlich wie gegenwärtig Christiane Florin, hat bereits Ernst Gutting (1919–2013), früherer Weihbischof des Bistums Speyer, in seinem Buch „Offensive gegen den Patriarchalismus“ betont, dass dieser sowohl „aus dem Bösen“ stamme (S. 48) als auch zugunsten einer Gleichberechtigung von Frauen und Männern überwunden werden müsse, um die von den Angehörigen beider Geschlechter immer wieder mit großem Einsatz zu ringen wäre (S. 148).

Dazu, so Florin sinngemäß, gehört ganz maßgeblich der Dialog in einem möglichst herrschaftsfreien Raum gemäß Matthäus 23,8 – auch innerhalb der katholischen Kirche. Gerade solche Gespräche könnten Ergebnisse hervorbringen, die allen Katholikinnen und Katholiken ermöglichen würden, sich in ihrer Glaubensgemeinschaft wohl und beheimatet zu fühlen.

Die Autorin hat sich dankenswerterweise dafür entschieden, zumindest vorerst in der katholischen Kirche zu bleiben, fürchtet aber, dass diese zukünftig „kleiner und kleingeistiger wird“ (S. 169) und warnt gerade deswegen eindringlich vor zu großer Nachgiebigkeit (z.B. S. 21) sowie fehlender Zivilcourage und Mitschuld durch Ermöglichung von Machtmissbrauch („Unsere Schafsgeduld, unsere Schuld“, S. 69 ff.). Diese verzagte Engherzigkeit dürfte der Kirche vor allem dann ins Haus stehen, wenn konstruktiv-kritische Denkerinnen und Denker diese auch weiterhin in Scharen verlassen, weil sie das durch die allzu strukturkonservativ-unsensible Haltung etlicher Amtsträger und Laiinnen/Laien hingenommene Elend der Lieblosigkeit innerhalb dieser Glaubensgemeinschaft nicht länger ertragen können oder wollen.

Folgerichtig gedacht, drohte dann nämlich, von wenigen erfreulichen Ausnahmen abgesehen, mittel- und langfristig die Herrschaft machtförmig-autoritärer „Hirten“ auf der einen und die angstmotivierte Unterwürfigkeit von „Schafen“ auf der anderen Seite.

Welchen Beitrag aber könnte eine solche Kirche zu existenziell fordernden Herausforderungen wie der Sicherung des Weltfriedens mit kraftvollen, aber gewaltfreien Mitteln, der Überwindung eines vorrangig von wirtschaftlichen Interessen geprägten Menschenbildes und des Klimaschutzes noch leisten? (vgl. S. 172)

Christiane Florin hat ein bemerkenswert wichtiges Buch geschrieben, weil sie für von Mitgläubigen zu Unrecht Benachteiligte oder gar in ihrer Menschenwürde verletzte (ehemalige) Angehörige der katholischen Kirche unerschrocken und mutig Partei ergreift. Dabei appelliert Florin daran, dass auch in dieser Glaubensgemeinschaft jeder und jedem mit den entsprechenden Charismen und der dafür nötigen Eignung die Möglichkeit zukommen sollte, Sakramente zu spenden oder (höhere) Ämter zu bekleiden. Schließlich ermuntert die Autorin, trotz allem Aufruf zu Ungeduld und Protest, Eigensinn und Horizonterweiterung, auch zu Ausdauer und Beharrlichkeit, was sie in dem originellen und geradezu paradox anmutenden Schlusssatz des Buches besonders treffend zum Ausdruck bringt: „Ich laufe bleibend davon“ (S. 173).

Josef Gottschlich

Das Buch kann im Medienportal der Mediathek Freiburg ausgeliehen werden.

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