Engagement für Frieden und gewaltfreie Konfliktbewältigung

Abualwafa, Mohammed: Der Koran und seine Bedeutungsebenen für das Hier und Jetzt. Zeitgemäße theologisch-didaktische Annäherungen am Beispiel des Begriffs Dschihad. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2020, 368 S.

Zu den wichtigsten weltpolitischen, aber auch religionspädagogischen Zielen unserer Zeit zählt ein konstruktiv-kritisches und friedliches Miteinander der Weltreligionen, das von gegenseitigem Interesse und Respekt getragen ist. Einen wichtigen Beitrag hierzu stellt diese im November 2019 an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe eingereichte Dissertation bereit. Im Wesentlichen geht es dem Autor darum, plausibel aufzuzeigen und eingehend zu begründen, dass der Dschihad, eine der wichtigsten Forderungen des Korans, hauptsächlich auf gewaltfreie Anstrengungen abzielt und die Rechtfertigung eines bewaffneten Kampfes nur in Ausnahmefällen zulässt.

Nach einem Einleitungskapitel, das nicht nur die theologischen und pädagogisch-didaktischen Ziele der Arbeit benennt, sondern auch einen Überblick über den derzeitigen Forschungsstand zur Thematik gibt, befasst sich der Autor mit koranischen Wissenschaften und Methoden der islamischen Theologie, da dies als Grundlage für seine weiteren Ausführungen unerlässlich ist. Hier erhalten wir sowohl Einblicke in verschiedene Offenbarungsanlässe als auch in insgesamt sieben Lesarten des Korans (S. 54 f). Von entscheidender Bedeutung sind Abrogationen (S. 28 ff.): Äußert sich der Koran zu einem Thema mehrmals, ist von wichtiger Bedeutung, welche dieser Aussagen von der islamischen Theologie als vor- und als nachrangig eingestuft wird. Hier spielen neben der Häufigkeit auch der Entstehungsort (Mekka oder Medina) und die Entstehungszeit eine wichtige Rolle. Dem Verfasser ist insgesamt wichtig, das breite Spektrum des Korans, bis hin zu sich widersprechenden Aussagen, zur Geltung zu bringen – was ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz erfordert. Zudem werden, nicht nur in diesem Kapitel, einerseits traditionelle Errungenschaften wie die Forschungsergebnisse islamischer Gelehrter aus den ersten Jahrhunderten, andererseits aber auch moderne westlich-europäische Deutungsansätze berücksichtigt und aufgezeigt.

Der nächste Teil der Abhandlung widmet sich der maqasid, einem hermeneutischen Ansatz zur zielorientierten Koranauslegung, der Tradition und Moderne miteinander zu vereinigen sucht. Hierbei werden verallgemeinerbare ethische Ziele (S. 86 f.) grundsätzlich über konkrete Einzelaussagen gestellt, ohne jedoch die in Mekka und die in Medina entstandenen Teile des Korans gegeneinander auszuspielen. Bei Koranversen, die durch andere Koranzitate entkräftet oder in Frage gestellt werden, untersucht der Autor mithilfe bereits vorliegender Forschungsergebnisse die Entstehungsbedingungen und zeigt hierbei überzeugend deren häufige Situationsgebundenheit auf.

Das vierte Kapitel beinhaltet den Tafsir, eine wissenschaftlich-theologische Methode der Koranexegese, welche klaren Regeln und einer hierarchischen Vorgehensweise unterstellt ist: Am wichtigsten ist die Auslegung des Korans durch den Koran selbst; es folgt dessen Deutung durch die Sunna: wichtige, in Textquellen erfasste Äußerungen Muhammads. Danach sind, in dieser Reihenfolge, zu nennen: die Erklärungen durch Muhammads Gefährten (Sahaba), Auslegungen der islamischen Tradition und schließlich Erkenntnisse infolge einer persönlichen Auseinandersetzung mit der jeweiligen Sure oder dem jeweiligen Vers (S. 105–110). Aufgezeigt wird in diesem Kapitel ebenfalls, wie stark manche Textinterpretationen durch die verschiedenen Rechts- und Glaubensschulen im Islam beeinflusst wurden und daher in Bezug auf ihre Allgemeingültigkeit durchaus in Frage gestellt werden können (S. 123 f.).

Im nächsten Teil untersucht der Verfasser Möglichkeiten und Grenzen einer neuen Koranauslegung. Diese wird nicht nur von der Theologie, sondern auch von anderen Kulturwissenschaften getragen und unterstützt (S. 148), insbesondere der arabischen Sprach-, Literatur- und Geschichtswissenschaft, der Philosophie und der Soziologie. Bei aller Wertschätzung, besonders in Bezug auf gegenwärtig zentrale Glaubenskonflikte und zwischenmenschliche Herausforderungen, wird eine allzu einseitig moderne Koranauslegung aber auch kritisch hinterfragt, da diese öfter auf rein persönlichen Zugangswegen beruhe und deswegen die für eine wissenschaftliche Analyse erforderliche Vorgehensweise des Tafsir zu wenig beachte (S. 155).

Das sechste Kapitel ist der wichtigste Teil der Arbeit, denn hierin geht es, unter den Kriterien von Objektivität und Sachlichkeit, jetzt ausdrücklich um den Dschihad-Begriff und seine Bedeutungsebenen im Koran. Aus historischer Perspektive wird hervorgehoben, dass Muhammad selbst über weite Strecken zu einer gewaltfreien Konfliktbewältigung aufgerufen hat (S. 179 ff.): Den Gebrauch von Waffen gestattete er nur im Verteidigungsfall und entschied sich im Zweifelsfall eindeutig eher für das Aushandeln von Friedensverträgen. Deutlich wird auch, dass der Prophet während seines 23-jährigen Wirkens nur an etwa 200 Tagen in Kampfhandlungen verwickelt war (S. 235).

Unabhängig davon macht Abualwafa deutlich, dass der Dschihad-Begriff im Koran neben ethisch-moralischen Anstrengungen für das Gute (großer Dschihad) auch für militärischen Kampf (kleiner Dschihad) Anwendung findet – wenn auch wesentlich seltener: 133 Versen, die vom Bemühen um Barmherzigkeit, sittliche Selbstüberwindung, Frieden und soziale Gerechtigkeit handeln (S. 313), stehen nur sechs Verse gegenüber, die zur bewaffneten Abwehr eines Angriffs oder zu der Befreiung aus Fremdherrschaft aufrufen. Gleichzeitig zeigt der Autor auf, dass ein offensives Dschihad-Verständnis im Koran nicht grundgelegt ist und sich ein sogenannter Schwert-Vers, auf den Befürworter islamischer Expansionspolitik gerne verweisen, hier nicht eindeutig verorten lässt (z. B. S. 170, 238, 263). Vielmehr steht eindeutig das Bemühen um friedliche Konfliktlösungen im Vordergrund, gerade auch, was das Zusammenleben mit Angehörigen der beiden anderen monotheistischen Buchreligionen Judentum und Christentum anbetrifft (S. 202 f., S. 259).

Im siebten und letzten Kapitel wendet der Autor all diese gewonnenen Erkenntnisse auf die pädagogische Praxis an. Hier fordert er eindringlich dazu auf, eine moderne Korandidaktik zu entwickeln, welche den Bedürfnissen zeitgenössischer Schülerinnen und Schüler wirklich entspricht (S. 278). Diesbezüglich empfiehlt der Autor Anleihen bei der christlichen Religionspädagogik, vor allem durch Anknüpfung an ihre Korrelationsdidaktik, welche auf eine möglichst lebendige Wechselbeziehung zwischen Glaubensinhalten und Lebenserfahrung achtet. Zudem ist, neben einer Ausrichtung an Kompetenzen, auch die Lernzielorientierung für den Autor von besonders großer Wichtigkeit (S. 293) – gerade deswegen, weil ein gewaltfreier Dschihad viele Berührungspunkte zu Werten wie Besonnenheit, Maß, Selbstbeherrschung, Verzicht auf Rache, Versöhnungs- und Vermittlungsbereitschaft aufweist.

Methodisch stehen bei den vielfältigen Lernimpulsen zurecht vor allem Textarbeit und Unterrichtsgespräch im Mittelpunkt. Betont wird, dass aufgrund des erforderlichen Hintergrundwissens eine eingehende Behandlung mit dem Thema Dschihad erst in der Oberstufe möglich sei (S. 310 f.). In der Tat dürften Schülerinnen und Schüler zuvor noch nicht in der Lage sein, mithilfe sorgfältiger Koranauslegung zu ergründen, dass ein offensiv-aggressives Dschihad-Verständnis aus dem heiligen Buch der Muslime nicht schlüssig abgeleitet werden kann. Kontroverse und fruchtbare Klassengespräche sind insbesondere bei den beiden ausführlicheren Unterrichtsentwürfen des Schlusskapitels (S. 300 ff.) zu erwarten, in denen Konzepte zur Ausgrenzung und Bekämpfung Andersgläubiger einerseits und Bemühungen um ein friedliches, von gegenseitiger Wertschätzung getragenes Zusammenleben andererseits einander gegenübergestellt werden.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf unabhängig vom Koran entwickelte Grundnormen und ethische Prinzipien, wie etwa die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen (S. 312 f.).

Dass die Grundlegung eines friedensorientierten Dschihad-Verständnisses bereits früher, nämlich in der Familie ratsam ist, wird im weiteren Verlauf ausdrücklich betont. Hier wirke sich vor allem vorbildliches Verhalten der Eltern aus, aber auch deren Unterstützung der Kinder bei deren Bemühen um differenziertes, eigenständiges Denken (S. 330 f.).

Der Verfasser beendet sein Werk mit einigen bedenkenswerten, jedoch nur recht knapp gehaltenen didaktischen Hinweisen, wie solches auch im Moscheeunterricht, während der Freitagspredigt und bei interreligiösen Gesprächen gelingen kann.

Insbesondere die Vielfalt der verwendeten Quellen, die sorgfältige Argumentationsstruktur und die konsequente Systematik überzeugen bei der vorliegenden Dissertation. Ohne Polemik, aber mit klaren Worten, werden all diejenigen, auch politische Verantwortungsträger, radikal in Frage gestellt, welche glauben, mit Hilfe des Korans eine Eroberungspolitik, autoritäre Herrschaft oder eine Zwangsmissionierung zum Islam rechtfertigen und durchführen zu können. Dabei gibt der Verfasser jedoch selbstbewusste und wissenschaftlich fundierte Traditionen des Islams keinesfalls auf – zurecht weist er, sorgsam abwägend, in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit einer kritischen Bewahrung hin. Nur dann können, so seine Überzeugung, auch intellektuelle, eigenständig urteilende Schülerinnen und Schüler eine tragfähige Brücke vom Koran zu ihren Lebenserfahrungen bilden und dieses Buch als durchaus noch immer aktuelle Inspirationsquelle für unermüdliches Ringen um Gerechtigkeit sowie um inneren und äußeren Frieden anerkennen und wertschätzen.

Weitere Informationen, insbesondere jeweils eine Vorschau zu allen acht Kapiteln des Buches, finden sich hier>>>.

 Josef Gottschlich

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