Fleckenstein, Elizabeth; Albus, Michael: Schattendasein. Flüchtlinge berichten. Kevelaer 2017, 176 S.
„Man kann Jesus nur erleben, wenn man anderen Menschen hilft, besonders denen, die zu kurz gekommen sind“ (S. 149). Davon ist Elizabeth Fleckenstein (30), Journalistin und Menschenrechtsaktivistin, überzeugt. Als 16-Jährige musste sie mit ihrer Familie während der zweiten Intifada von Bethlehem nach Jerusalem fliehen; Freunde der Familie verloren in dieser Zeit ihr Leben. Diese persönliche Erfahrung spielte bei der Entscheidung, sich beruflich für Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen, eine wegweisende Rolle. Fleckenstein, die sechs Sprachen beherrscht, darunter Arabisch, betreute in einem Team mit fünf weiteren Personen 338 Geflüchtete, die 2015/16 in der Stadthalle Freiburg Unterkunft fanden. Neben bürokratischer Hilfe und Schlichtung von Konflikten fanden die Geflüchteten stets Gehör, wenn sie von ihren Erlebnissen, Ängsten und Hoffnungen erzählen wollten.
Acht der Gespräche von Elizabeth Fleckenstein mit Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Gambia wurden für das vorliegende Buch aufgezeichnet. Dadurch gelingt es, ähnlich wie in der Publikation „Auf der Flucht“ von Karim El-Gawhari und Mathilde Schwabeneder (Wien 2015), Betroffene unmittelbar selbst zu Wort kommen zu lassen und ungefiltert, aus erster Hand, mit ihren Erfahrungen konfrontiert zu werden.
Deutlich wird immer wieder, dass fast alle mit der Flucht gezögert haben, bis die Verhältnisse in den Herkunftsländern völlig unerträglich geworden sind. Ihr Haus zurückzulassen und ihre oft gute berufliche Existenz aufzugeben (viele arbeiteten selbständig und hatten ein stattliches Einkommen) fiel allen äußerst schwer. Viele hätten auch noch länger zu Hause ausgeharrt, wenn sie keine minderjährigen Kinder gehabt hätten, die unbedingt in Sicherheit gebracht werden mussten.
Offenkundig werden die extrem schwierigen Lebensbedingungen für Geflüchtete in der Türkei, wo einige versuchten, auf Dauer Fuß zu fassen: Schul- und Berufsabschlüsse finden dort zumeist keine Anerkennung und für die angebotenen Hilfsarbeiten wird meist ein derart geringer Lohn gezahlt, dass es kaum möglich ist, davon die Mietkosten zu bestreiten. Weiterhin geht aus den Gesprächen hervor, dass nur selten alle Mitglieder einer größeren Familie gemeinsam nach Europa fliehen können und es deshalb meist zu schmerzlichen, oft jahrelangen Trennungen kommt: Zum einen sind die finanziellen Forderungen der Schlepper äußerst hoch, zum anderen sitzen manche Familienmitglieder, auch schon Minderjährige, aus politischen Gründen in ihren Heimatländern in Haft. Auch zeigen die dokumentierten Erfahrungsberichte einmal mehr die Lebensgefahr, in der alle Betroffenen schweben, die in kleinen, maroden und meist völlig überfüllten Schlauch- oder Holzbooten nach Griechenland oder Italien fliehen. Ein junger Mann aus Gambia verlor bei einer solchen Überfahrt seinen Vater (S. 114f.), ein Syrer verletzte sich während der Reparatur des Bootmotors schwer an einem Finger (S. 66). Einige Male wurden Bootsflüchtlinge in buchstäblich letzter Minute von einem Schiff aufgenommen und so vor dem Ertrinken oder Verdursten gerettet (z.B. S. 128).
Überraschend ist, dass für viele der Befragten die Erfahrungen während der Flucht auf der Balkan-Route noch härter waren: Neben Kälte und starken Regenfällen setzte ihnen vor allem die diskriminierende Behandlung durch das Militär in Serbien und Ungarn zu. Von den anderen Staaten auf der Route, vor allem Griechenland, Italien und Österreich, wird hingegen überwiegend Positives berichtet. In Bezug auf Deutschland sind die Erfahrungen zwiespältig: Während die Mitarbeitenden vom Roten Kreuz und der Sozialarbeit meist gelobt werden, sind viele Geflüchtete aufgrund der langen Dauer der Asylverfahren, großen bürokratischen Schwierigkeiten bei der Familienzusammenführung und der fehlenden Anerkennung vieler Schul- und Berufsabschlüsse enttäuscht. So fand etwa ein Afghane, der in seiner Heimat bereits als Personalmanager gearbeitet hatte, nach monatelangem Warten gerade einmal eine Anstellung bei McDonald’s und erhielt lediglich über die Härtefallkommission eine Aufenthaltsgenehmigung, die aber auf nur auf ein Jahr befristet ist und dann neu beantragt werden muss (S. 105). Zwei der Erfahrungsberichte zeigen die unerbittliche Grausamkeit der ISIS gegenüber Andersgläubigen (S. 35ff., S. 125 f.); in einem Fall töteten sie sofort alle Christinnen und Christen, die sie in einem Flüchtlingskonvoi in Libyen entdeckten.
Die dokumentierten Gespräche vermitteln aber auch Ermutigendes: Einige der Befragten konnten in Deutschland rasch Fuß fassen, nach relativ kurzer Zeit die Sprache lernen, kommen in der Schule gut zurecht oder haben bereits eine Berufsausbildung begonnen. Neben der quälenden Ungewissheit vieler Geflüchteten über das Schicksal zurückgebliebener Familienangehöriger erfahren wir aber auch manch Erfreuliches: Ein junger Mann aus Gambia begegnete in einem Aufnahmelager in Offenburg völlig überraschend seinem Cousin (S. 117); ein 14-jähriger Somalier erfuhr durch das Rote Kreuz, dass seine Mutter und Geschwister Zuflucht in einem äthiopischen Flüchtlingslager gefunden hatten und kann seitdem einmal pro Woche mit ihnen telefonieren (S. 120f.).
Deutlich werden immer wieder die ungebrochene Widerstandskraft und der feste Wille vieler Geflüchteter, nach Beendigung der akuten Kriegs- oder Gefahrensituation wieder in ihr Heimatland zurückzukehren und dort beim Wiederaufbau mitzuhelfen.
Den acht Gesprächen mit Geflüchteten folgt ein Interview von Michael Albus mit Elizabeth Fleckenstein über die Beweggründe ihres sozialen Engagements. Dabei beklagt sie unter anderem fehlende politische Anstrengungen zur Behebung der Ursachen von Flucht und Migration, die gedankenlosen Äußerungen vieler Menschen in Schlagworten, die meist einseitig negative Berichterstattung der Medien und politisch fragwürdige Entscheidungen wie die die Einstufung von Afghanistan als sicheres Land (S. 137).
Rupert Neudeck erinnert in einem Gastbeitrag an seine eigene Flucht von Ostpreußen nach Westfalen 1945 und gibt zu bedenken, dass Geflüchteten nicht nur zum Erlernen der Sprache des Gastlandes verpflichtet werden sollten, sondern ihnen auch die sofortige Möglichkeit zur Ausübung einer Arbeit gegeben werden müsse (S. 157f.).
In einem anschließenden Beitrag macht Michael Albus auf den Zusammenhang von Fremdenangst und Ethnozentrismus aufmerksam (S. 162). Um diesen zu überwinden, empfiehlt Albus eine kontinuierliche Horizonterweiterung durch zwischenmenschliche Begegnungen mit Fremden, im In- und Ausland (S. 170f.). Würden solche Erfahrungen hinreichend reflektiert, führe dies meist zum Abbau von Vorurteilen, zu einer vorsichtigeren Sprache, größerer Offenheit und Solidarität und einem bescheideneren Lebensstil (S. 172).
„Schattendasein. Flüchtlinge berichten“ ist ein Buch, das nicht nur der Vielschichtigkeit seiner Thematik gerecht wird, sondern, wesentlich bedingt durch die bemerkenswert hohe Sozial- und Fachkompetenz seiner Verfasser, Empathie und Hilfsbereitschaft zu wecken vermag. Somit kann die Publikation, in Ausschnitten, uneingeschränkt auch für den Religionsunterricht ab dem achten Schuljahr empfohlen werden.
Josef Gottschlich
Das Buch kann im Medienportal der Mediathek Freiburg ausgeliehen werden.
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